Zurück

Ultra-verarbeitete Nahrung

Die Pizza aus der Tiefkühltruhe gehört dazu, der Hamburger natürlich, überhaupt Fastfood und Fertignahrung, Softdrinks ebenso wie das Müsli aus dem Pappkarton, sogar der Brei aus dem Babygläschen, die umstrittene Kindermilch. Und selbst die beliebten industriellen Veganprodukte von der Hafermilch bis zum tierfreien Schnitzel. Sogenannte „ultra-verarbeitete“ Nahrungsmittel gelten als gesundheitlich problematisch. Sie sollten deshalb mit einem roten Warnlabel gekennzeichnet werden, schlagen die darauf spezialisierten Wissenschaftler vor. Weil es sich im klassischen Sinne gar nicht mehr um Lebensmittel handle, schlagen manche Forscher auch alternative Bezeichnungen vor: "ultra-verarbeitete Produkte" beispielsweise, oder "Scheinlebensmittel".

 

Diese Produktgruppe jedenfalls ist weltweit auf dem Vormarsch, dominiert schon in vielen Ländern die Versorgung und wird damit zu einem wachsenden Problem für die Weltgesundheit. Nach zahlreichen neuen medizinischen Untersuchungen sind ultra-verarbeitete Produkte zumindest mitverantwortlich für Übergewicht und die großen Zivilisationskrankheiten von Alzheimer über Herzleiden, Schlaganfall, Krebs und  Nierenkrankheiten bis hin zur Zuckerkrankheit Diabetes. Bei insgesamt 32 verschiedenen Gesundheitsstörungen fanden Mediziner Verbindungen mit dem Konsum dieser Erzeugnisse, so eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2024. 

 

Die ultra-verarbeitete Nahrung ist sozusagen der Alarmlevel in einem vierstufigen Bewertungsschema, der NOVA-Klassifikation für Lebensmittel, das eine Forschergruppe um Professor Carlos A. Monteiro entwickelt hat.

 

Es beurteilt den gesundheitlichen Wert nach dem Grad der Entfernung von der Natur.

 

Auf der ersten Stufe stehen dabei die Früchte der Natur, die Beeren, Äpfel, Birnen, auch Eier, Steaks, Nüsse, Haferflocken.

 

Auf der zweiten Stufe die leicht verarbeiteten Produkte wie Essig und Öl, Butter.

 

Auf der dritten Stufe finden sich etwa Dosentomaten, Parmaschinken, Bier und Wein.

 

Und auf der vierten schließlich diese Innovationen der globalen Food-Konzerne, die ultraverarbeiteten Nahrungsmittel – jene Produkte, die mittlerweile zur Krankheitsquelle eigener Art geworden sind. Denn: »Ihr Verzehr ist systematisch mit der Verschlechterung der allgemeinen Ernährungsqualität verbunden.«

 

Die »hohe und zunehmende globale Belastung durch Fettleibigkeit und andere ernährungsbedingte chronische, nicht übertragbare Krankheiten« sei vor allem eine Folge der Verdrängung von unverarbeiteten oder minimal verarbeiteten Lebensmitteln und frisch zubereiteten Gerichten und Mahlzeiten durch solche ultraverarbeiteten Lebensmittel und Getränkeprodukte, sagen die NOVA-Forscher.

 

Sie nennen auch die Namen von »zehn riesigen transnationalen, ultraverarbeitenden Lebensmittelkonzernen«, die so etwas herstellen. Sie lauten: Nestlé, PepsiCo, Unilever, Mondelēz International, Coca-Cola, Mars, Danone, Associated British Foods, General Mills, Kellogg’s.

 

Wie sich die Ultra-Varianten von Essen auf den menschlichen Organismus im direkten Vergleich zu traditionellen Lebensmitteln auswirken, zeigte im Jahr 2019 sehr eindrucksvoll eine Studie der US-amerikanischen Nationalen Gesundheitsinstitute (National Institutes of Health, kurz NIH) auf Basis der NOVA­Kategorien.

 

20 Versuchsteilnehmer, alle um die 30 Jahre alt, wurden dafür vier Wochen stationär in Kliniken aufgenommen. Zwei Wochen lang bekamen die einen echtes, frisch zubereitetes Essen und die anderen eine ultraverarbeitete Diät, bei der 83 Prozent der Kalorien aus einschlägigen Fertigprodukten stammten. Anschließend wurde getauscht.

 

Wichtigstes Ergebnis: Obwohl beide Varianten gleich viel Kalorien enthielten, nahmen die Versuchspersonen mit der Ultra­Nahrung durchschnittlich 508 Kalorien mehr auf, und zwar jeden Tag.

 

Sie nahmen folglich auch zu: in den zwei Ultra-Wochen zwischen 600 Gramm und 1,2 Kilo – und exakt so viel nahmen sie auch wieder ab, sobald sie echtes Essen bekamen.

 

Der Versuch zeigte auch, wie überlegen das neue Paradigma ist im Vergleich zu den bisherigen Bewertungsmaßstäben, etwa den Kalorien: Die spielten offenkundig überhaupt keine Rolle. Erst die industrielle Verarbeitung führte dazu, dass bei gleicher Kalorienmenge in der Nahrung mehr aufgenommen wird.

 

Auch bei vielen Krankheiten zeigten Studien die Effekte der Ultraprodukte: etwa bei Bluthochdruck, bei Herz-Kreislauf-Leiden, auch bei Magen-Darm-Erkrankungen und sogar bei Depressionen.

 

Auch Schäden an der Niere können die Folge sein, die bekanntlich als Kläranlage des Körpers gilt – und die Produkte der Konzerne von Nestlé bis Coca-Cola gelten offenbar als Fall für das Entsorgungssystem des Körpers.

 

Selbst bei Krebs kann die ultraverarbeitete Nahrung eine Rolle spielen. Das zeigte eine Studie, die 2018 im British Medical Journal erschienen ist. Die Gruppe von Wissenschaftlern um den Epidemiologen Thibault Fiolet von der Pariser Sorbonne, darunter auch der brasilianische NOVA-Pionier Monteiro und viele andere Kollegen, hatten dafür die Daten der französischen NutriNet-Santé-Studie durchforstet.

 

Ergebnis: Je mehr die Menschen von den einschlägigen Industrieprodukten verzehrten, desto mehr stieg ihr Krebsrisiko – und zwar überproportional. Wenn der Anteil von solchen Produkten also um beispielsweise um 10 Prozent stieg, dann stieg das Krebsrisiko noch höher.

 

Aber weshalb wird diese Art von Nahrung zum Risiko?

 

Verantwortlich ist eine ganze Reihe von Faktoren, die solche Ultraprodukte von echten, traditionellen Lebensmitteln unterscheiden, wie einschlägige Untersuchungen nachgewiesen haben:

 

Sie enthalten übermäßig viel Zucker und ungesundes Fett, auch industriell produzierte Vitamine.

 

Sie enthalten zu wenig Ballaststoffe, natürliche Vitamine, gute Fette.

 

Sie enthalten Stoffe zur Geschmacksmanipulation, die den Kontrollsinn des Körpers ausschalten oder austricksen, etwa Aroma oder auch Geschmacksverstärker.

 

Sie enthalten zahlreiche Zusatzstoffe, die etwa den Darm schädigen und damit das Immunsystem herausfordern können.

 

Sie können auch krebserregende »Prozesskontaminanten« enthalten, also Schadstoffe, die nicht aus Versehen hineingeraten, sondern aufgrund des industriellen Herstellungsprozesses.

 

Sie enthalten zum Beispiel im Übermaß ungesunde Stoffe, die während der Produktion entstehen, wie etwa die sogenannten Advanced Glycation End Products (AGEs), die Krankheiten fördern und das Alter beschleunigen können.

 

Solche Elemente, die es im bisherigen Verlauf der Evolution nicht gegeben hat, identifiziert der Körper als Bedrohung, und er reagiert mit seinem evolutionär entwickelten Alarmplan für Störungen aller Art. Bei Kontakt mit dieser modernen Nahrung drückt er sozusagen auf den roten Knopf – und aktiviert seine Abwehr.

 

Das fanden Forscher der Universität Bonn heraus. »Die Inhaltsstoffe der modernen Lebensmittel«, sagt Professor Eicke Latz, »können das Immunsystem aktivieren wie ein Erreger und eine langfristige Reaktion hervorrufen, die dann selbst wieder toxische Effekte hat.«

 

Das hatte er gemeinsam mit einer internationalen Forschergruppe nachgewiesen, an der auch Wissenschaftler aus Norwegen, den Niederlanden und den USA mitgewirkt haben. Ihre Untersuchung erschien im renommierten Wissenschaftsmagazin Cell.

 

Natürlich gilt auch hier: Die Dosis macht das Gift. Allerdings ist es so, dass die Dosis weltweit steigt, weil die Ultranahrung in vielen Ländern mittlerweile dominiert. Wobei es erhebliche Unterschiede gibt zwischen den einzelnen Ländern, wie eine im Journal Public Health Nutrition veröffentlichte Untersuchung von NOVA-Pionier Professor Monteiro und seinen Kollegen ergab.

 

Insgesamt stammte demnach in 19 europäischen Ländern ein Viertel aller Kalorien aus solchen ultraverarbeiteten Konzernprodukten – allerdings waren es in manchen Ländern nur sehr wenig, 10,2 Prozent etwa in Portugal und 13,4 Prozent in Italien.

 

In der Spitzengruppe aber bestand die Hälfte der verzehrten Kalorien aus den als Krankheitserreger verdächtigten Ultranahrungsmitteln auf Level 4 im NOVA-System: 46,2 Prozent etwa in Deutschland und 50,4 Prozent in Großbritannien. In den USA sollen es sogar 58 Prozent sein. Und 73 Prozent des Angebots in den Geschäften.

 

Die Dosis steigt also, die Verhältnisse verändern sich, der Wert der gesamten Nahrungsmenge sinkt, der schädliche Anteil steigt. Und damit die Relevanz für die globale Gesundheit. Solche Nahrung ist demnach vor allem verantwortlich für die weltweite »Pandemie von Übergewicht und Diabetes«, die zu den »phänomenalen globalen Katastrophen« gehören, wie die NOVA-Forscher  im Journal World Nutritionschrieben.

 

Die offiziellen brasilianischen Ernährungsrichtlinien auf Basis der NOVA-Klassifikation raten daher von solchen Produkte ausdrücklich ab: »Vermeiden Sie ultra-verarbeitete Nahrungsmittel«.

 

Doch woran sind sie zu erkennen, solange es noch keine NOVA-Labels gibt?

 

Auch darauf sind die Forscher eingegangen und geben Hinweise, um die Problemprodukte zu identifizieren, etwa in der Zeitschrift Public Health Nutrition („Ultra-processed Foods: What They Are and How to Identify Them“).

 

Als Alarmsignal können etwa Zusätze gelten, die »nie oder selten in Küchen verwendet werden«, also so etwas wie Maissirup, auch „hydrierte“ oder „umgeesterte“ Öle, ebenso hydrolysierte Proteine oder all die anderen Zusatzstoffe, die beim herkömmlichen Kochen niemals zum Einsatz kommen, etwa Emulgatoren, Emulgatorsalze, Süßungsmittel, Verdickungsmittel und Antischaum-, Füll-, Karbonisierungs-, Schaum-, Gelier- und Glasurmittel.

 

Man könnte auch die Phosphate dazurechnen, vor denen sogar schon das Deutsche Ärzteblatt gewarnt hatte.

 

Mittlerweile schlagen Forscher, darunter auch der NOVA-Pionier Monteiro, vor, diese ultra-verarbeiteten Erzeugnisse nicht mehr "Lebensmittel" oder "Nahrung" zu nennen, weil sie sich zu weit von dem entfernt hätten, was herkömmlicherweise unter diesen Bezeichnungen verstanden wurde.

 

Als Alternativen wurden vorgeschlagen: „Ess-Zeug“, „Lebensmittelähnliche Objekte”, „Scheinnahrungsmittel“, „Pseudolebensmittel“. In vielen Veröffentlichungen gebräuchlich sind die Synonyme „Junk Food“. (Müllnahrung) sowie „Fake Food“ (gefälschte Nahrung).

 

Als Alternative kann die traditionelle Ernährung gelten, insbesondere die mediterrane Ernährung, mit frischen Zutaten, Obst, Gemüse, ein bisschen Fleisch und Fisch, kaum Zucker, keine Chemie – die Prinzipien einer Gourmet-Diät, geschmacksbasiert, gehirngesteuert, genussorientiert, mit denen eigentlich alle überlieferten kulinarischen Stile operieren, überall auf der Welt, je nach örtlichem Angebot. 

 

Bewertung von Nahrungsmitteln nach dem NOVA-System
© Empfehlung gemäß Ernährungsrichtlinien des brasilianischen Gesundheitsministeriums, 2014